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Der Verlust

 
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Gast






BeitragVerfasst am: Mo Jan 03, 2011 5:41 pm    Titel: Der Verlust Antworten mit Zitat

Seit ein paar Tagen reißt sich der zuletzt weinerliche und verweichlichte Sommer wieder zusammen. Die Sonne backt auf mittlerer Stufe und hier, an diesem stillen Plätzchen das ich für mich gefunden habe, geht ein leichter Wind durch Strauch und Schilf der Uferböschung.
Eine kleine Schneise erlaubt mir den Blick aufs Wasser, das träge fließt und nur ganz selten, angeregt durch vereinzelte Ruderer, müde kleinste Wellen an den steinigen Uferrand schickt um mir ein immer schwächer werdendes : Hal-lo, hal-lo, ha—lo zuzuflüstern.

Nur einmal die Stunde, entweder stromauf- oder abwärts, dröhnt ein Schiffe der Weißen Flotte durch die Ruhe und nicht nur ich fühl mich gestört. Dann schlägt das Wasser protestierend und nachdrücklicher an die Böschung und lässt abgerissene Äste, Laub und kleine Wasservögel etwas wilder auf den Wellen schaukeln.

Ich sitz auf einer kleinen Holzbank und starre ins glitzernde Nass, das im Zusammenspiel von Licht und Bewegung mir immer neue, sekundenlange Bilder der Vergänglichkeit vorführt.
Liegt es am frühen Herbst dass ich kaum noch einen Gesang der gefiederten Freunde höre?
Oder haben die schwarzen Boten der Kälte sie vertrieben? Heiser rufen sie sich Grüße zu – oder lästern sie über mich?
Die Bäume jedenfalls probieren schon vereinzelt neue Farben für ihren letzten Auftritt im Jahr.
Die Luft ist klar und voller Gerüche. So wie man verbranntes Fleisch schon riecht obwohl noch hunderte von Metern von der Grillstelle entfernt, so rieche ich den schleichenden, betäubenden Duft des sterbenden Waldes.

Kaum ein Jogger stört, ganz selten ein Radfahrer oder jemand mit einem struppigen Mischling an der Leine. Alle haben es eilig – und so schnell wie sie in einem Augenwinkel auftauchen so schnell sind sie auch vorüber und hinterlassen nur eine träge aufsteigende und langsam zu Boden sinkende Staubfahne.
Ein Geräusch klingt anders, nähert sich langsamer und unregelmäßiger.
Schlurfende Schritte, Knirschen von Reifen auf dünnem Split. Immer wieder mit kurzen Pausen.
Müde dreh ich meinen Kopf in die Richtung um zu sehen was dort angefahren kommt, um abzuschätzen wie lange es noch braucht um an mir vorbei wieder ins Nichts zu verschwinden.

Es ist ein kleiner Rollstuhl, geschoben von einem jungen Mann, der alle paar Meter innehält und mit seinem Kopf ruckartig links und rechts die Umgebung prüft. Dann auf ein Zeichen seines Passagiers sich wieder gegen den Rolli stemmt und mit einem Grunzen das Gefährt nach vorne drückt.
Die Art seiner Schritte, seines dauernden Kopfschüttelns und der merkwürdig entrückte Gesichtsausdruck lassen mich an einen geistig Behinderten denken.
Im einfachen, motorfreien Rolli sitzt eine kleine Frau. Sehr klein. Und erst als sie auf fast zehn oder fünfzehn Meter näher kommen seh ich dass es keine sehr kleine Frau, sondern ein sehr junges Mädchen ist.
Vielleicht ist sie zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre alt: es ist schwer zu schätzen so wie sie in ihrem Stuhl sitzt. Eine Decke, die mehr offenbart als verdeckt, über ihre Oberschenkel gelegt.
Unterschenkel die bedeckt werden könnten hat sie nicht mehr.
In ihren Händen hält sie eine kleine Kiste oder Karton und jetzt sagt sie etwas zu ihrem Helfer und zeigt mit ihrer Hand auf einen Baum, einer Blutbuche, die etwas abseits vom Gehweg, weiter weg vom Ufer, oberhalb einer leichten Böschung in den Nachmittagsstrahlen der Frühherbstsonne glüht.
Der Junge, vielleicht ihr Bruder, müht sich das Gefährt hochzuschieben. Mit deutlicher Anstrengung schafft er es auch; schiebt sie durch weichen Sand zur Buche und lässt sich auf ein Zeichen von ihr erschöpft auf den Boden fallen.
Da meine Bank auf der Böschung steht kann ich deutlich sehen wie der Junge anfängt mit den bloßen Händen Sand zu schaufeln. Ich höre sein schweres Atmen, sogar das Schaben und Kratzen seiner Hände, - aber eine Unterhaltung hör ich nicht.
Er gräbt verbissen wie ein Verzweifelter – und sie schaut ausdruckslos zu.

Ein kleines, verstümmeltes Mädchen mit einer Kiste in der Hand sieht zu wie jemand versucht ein Loch unterhalb des Baumes zu graben.
Wahrscheinlich soll ihr Haustier seine letzte Ruhestätte hier finden.
Vielleicht ein Wellensittich, ein Hamster oder ein Meerschweinchen.
Was kleine Mädchen eben so lieben und um das sie so intensiv trauern können.

Der Boden scheint doch fester zu sein und ich beobachte wie der Junge das Mädchen etwas hilflos und fragend ansieht.
Hab ich durch mein Hinstarren auf mich aufmerksam gemacht?
Als sie sich umschaut und zu mir herüber guckt kann ich meinen Blick nicht schnell genug abwenden.
Ohne dass sie die Lippen bewegt erkenne ich an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie mich um Hilfe bittet. Auch der Behinderte grinst mit merkwürdig verzogenem Mund zu mir herüber.
Was soll ich tun? Einfach Wegdrehen und tun als hätte ich nichts gesehen? Zu spät.

Nach kurzem Zögern steh ich auf und schwanke im ersten Augenblick. Wenn ich lange gesessen habe spüre ich die Fußgelenke schmerzen, die ersten Schritte sind immer holperig und ich muss aufpassen, dass mir mein Knie nicht umknickt.
Vorsichtig gehe ich auf die beiden zu.
Im Schatten der Buche betrachte ich das kleine Mädchen, das doch jetzt jünger aussieht als ich geschätzt habe- sie kann höchsten zehn sein.
Ein weißes, gehäkeltes Käppchen trägt sie, das an den Seiten dunkelblondes Haar vorlugen lässt. Sie trägt eine weiße Windjacke und auf der braunen Decke über ihren Schoß hält sie mit beiden Händen eine Zigarrenkiste.
Dein Haustier? Frage ich leise.
Kannst du uns helfen? Fragt sie zurück

Der Junge betrachtet seine Fingernägel unter die sich der Sand geschoben hat und versucht sie mit seinen Zähne zu säubern.
Ich blick mich um, etwas zu finden mit dem man schaben, graben könnte und entdecke einen flachen, faustgroßen Stein.
Mühsam und ächzend beug ich meine schmerzenden Knie, greif den Stein, dreh ihn prüfend in der Hand und hacke dann damit den Boden auf.
Jetzt wird auch der Junge wieder aktiv und schaufelt die aufgebrochene Erde mit beiden Händen aus der größer werdenden Kuhle.
Wie ein Urzeitmensch komm ich mir vor mit meinem Steinwerkzeug. Und nach einer Unendlichkeit mühsamen Grabens fühl ich mich auch so alt.
Nach einer Weile halt ich ein, prüfe die Tiefe des gegrabenen Loches und werfe einen Blick auf die Kiste in ihrer Hand um zu sehen ob es schon reicht.
Sie nickt und reicht mir mit beiden Händen zaghaft den kleinen Sarg.

Ich bin irritiert.
Irgendwie ist die Kiste zu leicht.
Unauffällig wiege ich sie in meinen Händen, schüttel sie ganz sacht – aber da ist nichts drin. Selbst etwas ganz kleines, eine Maus meinetwegen, müsste zu spüren sein.
Sie sieht wohl meinen Zweifel und ohne dass ich frag sagt sie: Eine Katze. Es ist eine Katze.
Katze? Selbst das kleinste Kätzchen hat Gewicht.
Sie gibt mir durch ihr zögerndes Nicken die Erlaubnis einen Blick hineinzuwerfen.
Vorsichtig heb ich den Deckel an.
Es ist eine Katze. Schwarz mit langem Fell. Die Augen wie im Schlaf geschlossen, zusammengerollt, die Pfoten zum Körper gezogen und der buschige Schwanz darüber wie ein Schutzschild gelegt.
Von Kinderhand mit Wachsmalstiften auf ein Papier aufgemalt
Vor grauem Hintergrund- ich erkenne einen Straßenrand, eine Gosse, dahinter eine kleine Böschung, das Ufer der Ruhr.
Ich hab sie gefunden, sagt sie, und ich wollte sie beerdigen.
Aber bevor sie heranrollen konnte kam eine Gruppe Erwachsener. Sie waren laut und haben gelacht- vor allem die Frau hat nur gelacht. Bis sie die Katze in der Gosse sah. Da fing sie an zu kreischen und konnte nicht mehr aufhören.
Der Mann wollte sie beruhigen- aber es gelang ihm nicht.
Da hat er die Katze am Schwanz gepackt und in die Ruhr geworfen.
Die Frau wurde still und sie sind weitergegangen.

Aber sie muss doch beerdigt werden? Auch Katzen müssen beerdigt werden und nicht einfach ins Wasser geschmissen.
Da hat sie ein Bild gemalt von ihr- das Blut hat sie aber nicht malen wollen.
Und dann das Bild in die Kiste gelegt und einen schönen Baum gesucht unter dem sie sie beerdigen kann.
Weil Katzen doch so gerne klettern.

Einige Wasserflecken entdeck ich auf dem Bild- als hätte die kleine Künstlerin beim Malen geweint – oder sind es Tränen von mir?
Ich schließe sacht den Deckel und lege die Kiste behutsam ins Loch.
Das Mädchen greift an ihren Nacken und öffnet eine kleine Halskette.
Ein Amulett, vielleicht ihr Glücksbringer. Ein kleines, silbernes Etwas. Kein Kreuz – eher wie zwei ineinander verschlungene Schlüssel.
Mit einer kaum merklichen Handbewegung wirft sie das Kettchen auf die Kiste.
Der Junge hört auf seine Nägel zu säubern und schiebt wie wild den ausgehobenen Sand auf den Katzensarg.
Fast ekstatisch klopft er den Boden fest und zeichnet zum Schluss ein merkwürdiges Zeichen, das dem Amulett ähnelt in den Sand.

Ob ich ein Gebet sprechen kann fragt sie mich.
Ich schüttel den Kopf. Nein- ich bin Totengräber, ich kann nur graben.
Kurz schau ich dem Jungen ins Gesicht und ich höre wie sie sagt: er kann nicht reden.
Unentschlossen knie ich immer noch im Sand und frag mich, wie ich, ohne mich auf etwas stützen zu können, wieder auf die Beine komme.
Der Junge steht auf, reicht mir die Hand und ich kann mich an ihm aufrichten.

Kannst du nicht beten?
Sie schüttelt traurig den Kopf.
Unschlüssig, verlegen stehen ein blöde grinsender Jugendlicher, der wieder mit seinen Zähnen seine Nägel reinigt und wie seltsames Weihwasser sein Reinigungsergebnis auf die verborgene Stelle spuckt, ein trauriges, beinamputiertes Mädchen im Rollstuhl und ein alter Totengräber, der bisher nur Totes aus der Vergangenheit ausgegraben hat, im Kreis um das Grab einer Katze, die lebte oder nicht lebte; die aber starb und vielleicht dadurch erst existieren wird.

Etwas entfernt von uns, auf einem Ast einer Trauerweide, deren Zweige tief in der Strömung hängen, sitz eine Krähe, die neugierig zu uns rüber äugt.
Mir fallen ein paar Zeilen von Johannes Bobrowski ein.
Vor mehr als einem Vierteljahrhundert gelesen und immer wieder gelesen bis ich es auswendig konnte.
Dorfmusik.
So heißt es.

Ich kenn ein Gedicht. Ist doch auch so etwas wie ein Gebet, oder?
Sie fragt ob es von mir ist und ich schüttel wieder den Kopf.
Von jemand anders- ist aber auch egal, meinst du nicht?
Bitte! Sagt sie nur.


Letztes Boot darin ich fahr
keinen Hut mehr auf dem Haar
in vier Eichenbrettern weiß
mit der Handvoll Rautenreis
meine Freunde gehn umher
einer bläst auf der Trompete
einer bläst auf der Posaune
Boot werd mir nicht überschwer
hör die andern reden laut:
dieser hat auf Sand gebaut.

Ruft vom Brunnenbaum die Krähe
von dem ästelosen: wehe
von dem kahlen ohne Rinde:
nehmt ihm ab das Angebinde
nehmt ihm fort den Rautenast
doch es schallet die Trompete
doch es schallet die Posaune
keiner hat mich angefaßt
alle sagen: aus der Zeit
fährt er und er hats nicht weit

Also weiß ichs und ich fahr
keinen Hut mehr auf dem Haar
Mondenlicht um Brau und Bart
abgelebt zuendgenarrt
lausch auch einmal in die Höhe
denn es tönet die Trompete
denn es tönet die Posaune
und von weitem ruft die Krähe
ich bin wo ich bin: im Sand
mit der Raute in der Hand.



Noch eine Weile stehen wir vor dem Grab, bis ein Flügelschlag uns erschreckt.
Die Krähe schwingt sich auf und mit einem krächzenden „Amen“ verlässt sie die Trauergemeinde.
Ich helfe den Rolli die Böschung hinunter zu schieben – nicht dass der Junge die Kleine noch umkippt und aus dem Rollstuhl fallen lässt.
Dann übernimmt er wieder. Umklammert die Griffe, schiebt und drückt und seine tapsigen Schritte schlurfen über den Weg, wirbeln kleine Staubwölkchen auf und die Räder knirschen leise in der Stille dieses Tages.
Ich blicke hinterher, blicke zur Buche mit dem unsichtbaren Grab einer nichtexistenten Katze und während ich mechanisch meine Hände an der Jeans säuber merke ich dass mein Grabstein mir die rechte Handfläche zerschnitten hat.
Etwas Blut tröpfelt.
Aber Schmerz fühl ich nicht.

Jedenfalls nicht diesen Schmerz.
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Google






Verfasst am:     Titel: Sponsored Link


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Gast






BeitragVerfasst am: Mo Jan 03, 2011 8:11 pm    Titel: Antworten mit Zitat

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Gast






BeitragVerfasst am: Mo Jan 03, 2011 8:16 pm    Titel: Antworten mit Zitat

wunderschön, - dank dir!
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Gast






BeitragVerfasst am: Mo Jan 03, 2011 10:26 pm    Titel: Antworten mit Zitat

Danke für diese wunderschöne Geschichte.
Bitte um mehr
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Gast






BeitragVerfasst am: Di Jan 04, 2011 9:11 pm    Titel: Antworten mit Zitat

Haruki,

eine wundervolle Geschichte und wirklich gut geschrieben. Meine Anerkennung.
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Gast






BeitragVerfasst am: Di Jan 04, 2011 9:56 pm    Titel: Antworten mit Zitat

Blase sanfter Abendwind...

...dass die fische fliegen können...


Eva Strittmatter ist entschlafen, heute,
auch ein Verlust, ihre Verse werden weiterleben.


Deine auch,
Grüße!
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lesoleil
entdeckend


Anmeldedatum: 11.03.2008
Beiträge: 1458

BeitragVerfasst am: Mi Jan 05, 2011 12:28 pm    Titel: Antworten mit Zitat


Danke Haruki,

einfach wunderschön geschrieben,....

_________________
Erwarte nicht´s, und jeder Tag bringt eine neue Überraschung!
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Gast






BeitragVerfasst am: Mi Jan 05, 2011 12:56 pm    Titel: Antworten mit Zitat

danke, haruki, sehr, sehr schön.....
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Gast






BeitragVerfasst am: Mi Jan 05, 2011 12:57 pm    Titel: Antworten mit Zitat

Haruki
einfach wunderschön geschrieben, mir stehen direkt die Tränen in den Augen.
bavaria34
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