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Späte Einsicht

 
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Gast






BeitragVerfasst am: Sa Okt 06, 2012 4:49 pm    Titel: Späte Einsicht Antworten mit Zitat

Späte Einsicht


Sie waren schon über zehn Jahre verheiratet, Horst und Sylvia. Er war ein gutaussehender Mann, der sich aber meistens seinen trüben Gedanken und Ängsten hingab, sie war eine kleine zierliche und immer noch sehr hübsche Frau mit wundervollen blauen Augen, die immer öfter unter seinen Wutausbrüchen und Eifersuchtsanfällen zu leiden hatte, obwohl sie ihm nie irgendeinen Anlaß gegeben hatte. Sie durfte nicht arbeiten gehen, obwohl sie eigentlich gerne etwas zum nicht besonders großen Haushaltsbudget beigetragen hätte, sie durfte nicht alleine aus dem Haus zum einkaufen, sie durfte gar nichts alleine außerhalb des Hauses machen, weil er Angst hatte, sie würde einen anderen Mann kennen lernen und ihn dann verlassen. Sie liebte ihren Mann, bekam aber immer mehr Angst vor ihm. Deswegen wurde das leuchtende blau ihrer Augen und sie selbst immer blasser und sie selbst wurde immer schmaler und kleiner.

Irgendwann kam er Abends von der Arbeit nach Hause und sie bereitete das essen vor. Er hatte sich aber für etwas anderes entschieden und schickte sie in den Keller, um Kartoffeln zu holen und zu kochen. Als sie nicht sofort ging, schrie er sie an und ging auf sie zu, um sie zu schlagen. Da lief sie zur Kellertreppe, rannte in den Keller, aber verfehlte eine Stufe und fiel den Rest der Stufen hinunter. Durch das Gepolter erschrocken, kam er hinterher und fand seine Frau bewusstlos auf dem Kellerboden liegen. Er rief den Notarzt und der sagte etwas von inneren Verletzungen, Lebensgefahr und das sie sofort in die Klinik müsste, also nahmen sie sie mit.

Im Krankenhaus erklärte man ihm, das seine Frau im Koma liegen würde und das es an ihr selbst liegen würde, ob sie den Sturz überleben würde oder nicht. Als er den Arzt verständnislos ansah, sagte er, "Die körperlichen Verletzungen bekommen wir wieder in den Griff, aber es sieht so aus, als hätte sie keinen Willen mehr zum leben. Wenn es ihr nicht gelingt, den wieder zu bekommen, wird sie sterben." Horst ging in das Krankenzimmer seiner Frau und setzte sich zu ihr. Er rief auf seiner Arbeitsstelle an und nahm sich ein paar Tage Urlaub, um in der Klinik bleiben zu können. Dann beobachtete er seine bewusstlose Frau und wunderte sich, warum sie so klein und schmächtig aussah. Das hatte er die ganze Zeit nicht bemerkt. Er fühlte wieder die Liebe, die er am Anfang ihrer Beziehung gefühlt hatte, als sie heirateten. Und er fühlte, das sie ihm jetzt schon fürchterlich fehlte. Dann fing er an, durch das Zimmer zu wandern und mit ihr zu reden. Er erzählte ihr von seinen Ängsten, seinen Problemen, seiner Eifersucht und den Gründen dafür. Er entschuldigte sich vielmals bei ihr und flehte sie an, wieder zu ihm zurückzukommen und ihn nicht alleine zu lassen. Er redete mal leiser, mal lauter, er flüsterte, schrie, lachte und weinte, drei Tage ohne Schlaf. Dann setzte er sich wieder an ihr Bett, legte seinen Kopf an ihre Seite und schlief ein.

Er schlug die Augen auf und sah, das er sich an einem anderen Platz befand. Es war ein großer Platz, dort standen viele Bänke, auf denen Männer und Frauen jeweils alleine saßen und auf irgend etwas warteten. Auf der einen Seite war eine Öffnung, und als er dort durch schaute, sah er ein Krankenhauszimmer, ind dem sich ein Mann und eine Frau befanden. Die Frau lag im Bett und schlief, der Mann saß neben ihr auf einem Stuhl und hatte den Kopf an ihrer Seite liegen. Die Frau sah aus wie seine Frau und der Mann...... das war er selbst. Als er noch rätselte, was hier vor sich ging, sah er, das jemand aus dieser Öffnung heraus kam und über den Platz gehen wollte. Auf der anderen Seite des Platzes war ein Torbogen, durch den ein unangenehm gleißendes Licht schien. Dann bemerkte er, das die Person, die durch die Öffnung kam, seine Frau war. Sie war so hübsch wie immer aber irgendwie sah sie so durchscheinend aus, so wie ein Geist. Er trat auf sie zu. Überrascht, ihren Mann an diesem Platz zu sehen, blieb sie stehen und sah ihn an.

"Wo sind wir denn hier?" Fragte er. "Das hier ist die Zwischenwelt. Das ist der Übergang der Lebenden ins Reich der Toten. Die Leute, die du hier siehst, waren alle verliebt, verlobt oder verheiratet. Sie sind früher gestorben als ihre Partner und warten nun auf ihn, damit sie gemeinsam in das Totenreich gehen können, um auf ewig zusammen sein zu können." "Und du," fragte er, "du würdest nicht auf mich warten?" "Nachdem, was du mir alles angetan hast, weiß ich nicht, ob ich auf dich warten will. Außerdem bist du noch nicht so alt, das du den Rest deines Lebens alleine bleiben würdest. Du kannst dir ohne Probleme eine andere Frau suchen." Ich will mir aber keine andere Frau," schimpfte er, "ich habe bereits eine Frau, die ich über alles liebe und mit der ich alt werden will." Sie lachte leise. "Das, was du die letzten Jahre unter Liebe verstanden hast, war aber alles andere, nur keine Liebe. Und die einzige Möglichkeit für mich, das Leiden zu beenden, ist, durch dieses Tor zu gehen, denn dann finde ich meinen Frieden." "Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dir zu beweisen, das ich mich geändert habe und das ich mit dir zusammen sein möchte, weil ich nur mit dir glücklich sein kann, werde ich mit dir durch dieses Tor gehen. Ich habe mich in den letzten Tagen sehr geändert und werde nie mehr so sein, wie ich früher einmal war." Erschrocken rief sie, " das kannst du doch nicht machen. Dann wirst du sterben und kannst nie, wieder zurück. Und du hattest doch noch so viel vor in deinem Leben." "Wenn du nicht ein teil meines Lebens bist, hat das ganze Leben für mich keinen Sinn mehr. Alle Pläne, die ich hatte, alle Träume, alle Wünsche könnte ich nur realisieren, wenn du da bist, denn du bist ein Teil dieser Pläne und Wünsche, weil du ein Teil meines Lebens bist. Und wenn du nicht mehr da bist, will ich auch nicht mehr leben." Er ging langsam auf das Tor mit dem Licht zu und er fand es auf einmal richtig angenehm. Da rief sie plözlich, "Warte. Geh nicht durch." "Warum soll ich warten?" "Ich glaube dir. Ich werde dich nicht alleine lassen. Komm, lass uns nach Hause gehen." Sie nahm ihren Mann an der Hand und zog ihn zu der Öffnung, durch die er sich selbst und seine Frau gesehen hatte und durch die sie gekommen war. Beide traten durch.

Er erwachte , als er spürte, das ihn eine Hand über seine Wange strich. Er schlug die Augen auf, ergriff die Hand, die seiner Frau gehörte, und küsste sie. Sie lächelte glücklich. "Das hast du schon lange nicht mehr gemacht", flüsterte sie. "Ich werde es von heute an wieder öfter machen, denn ich möchte, das du glücklich bist. Aber du wirst nicht glauben, was ich geträumt habe." "Ich weiss, was du geträumt hast, ich war dabei. Aber gehe jetzt nach Hause und schlaf dich aus. Ich fühle mich schon wieder viel besser. Komm morgen wieder. Ich liebe dich." "Ich liebe dich auch," flüsterte er. Er ging aber noch nicht gleich nach Hause, sondern sorgte noch dafür, das seine Frau ein Fernsehgerät und ein Telefon ans Bett bekam und kaufte ihr noch einen Strauß Blumen und Pralinen. Danach ging er nach Hause, rief aber gleich wieder an um zu fragen, wie es ihr ging. Jeden Tag besuchte er sie nach der Arbeit und zwei Wochen später konnte er sie endlich nach Hause holen. Und er hatte sich wirklich geändert. Er kochte oft und gerne, half ihr oft im Haushalt. Sie bekam ein eigenes Auto und ging wieder arbeiten. Sie war sehr glücklich und weil sie so glücklich und weil das so war, wurde er gelöster und ruhiger. Sie kauften ein Haus in der Nähe des Flusses und stellten eine kleine Bank in den Garten. Da saßen sie dann Abend für Abend, schauten den Schiffen zu, redeten und lachten. Nach vielen Jahren glücklichen Lebens starb Horst in hohem Alter. Sylvia folgte ihm nur einige Tage später. Man sagte, sie wollte ihn nicht so lange warten lassen. Andere Leute sagten, das sie die Einsamkeit ohne ihren Mann nicht aushalten konnte. Ihre Kinder zogen dann in das Haus ein und veränderten fast alles. Das einzige, was sie so ließen, wie es war, war die Bank, auf der die Eltern so gerne gesessen hatten. Und wenn man ganz gute Ohren hatte, konnte man selbst viele Jahre nach dem Tod der beiden noch ab und zu ein ganz leises Lachen von der Bank hören. Und wenn das Licht Abends in einem ganz bestimmten Winkel auf die Bank schien, konnte man meinen, einen ganz leichten Schatten von zwei sitzenden Menschen zu sehen.
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Gast






BeitragVerfasst am: Sa Okt 06, 2012 5:11 pm    Titel: Antworten mit Zitat

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edel09
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Beiträge: 38

BeitragVerfasst am: Sa Okt 06, 2012 6:11 pm    Titel: späte Einsicht Antworten mit Zitat

Was für eine wunderschöne Geschichte, sie hat mich gerührt.
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Peter2012
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Beiträge: 155

BeitragVerfasst am: Sa Okt 06, 2012 6:37 pm    Titel: Antworten mit Zitat

.. wirklich sehr schön, Respekt Exclamation
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lesoleil
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Anmeldedatum: 11.03.2008
Beiträge: 1458

BeitragVerfasst am: Sa Okt 06, 2012 6:53 pm    Titel: Antworten mit Zitat


Wunderschön erzählt und regt zum Nachdenken an, Daumen hoch!

_________________
Erwarte nicht´s, und jeder Tag bringt eine neue Überraschung!
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Coleen
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Beiträge: 2649

BeitragVerfasst am: So Okt 07, 2012 11:42 am    Titel: Antworten mit Zitat

für manche kommt leider der einsicht zu spät......

mich hat deine geschichte berührt...danke Very Happy
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Gast






BeitragVerfasst am: Di Okt 09, 2012 4:01 pm    Titel: Antworten mit Zitat

Eine sehr schöne anrührende Geschichte. Wie einfach könnte vieles sein wenn man nicht erst beim Verlust eines geliebten Menschen erfährt wie wichtig er einen doch ist.
Sie war eine sehr geduldige, liebende Frau , hat alles ertragen .....
ich wäre nach den ersten Schlägen gegangen.....
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willfriedo0
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Beiträge: 1111
Wohnort: bei Lüneburg

BeitragVerfasst am: Mi Okt 10, 2012 6:54 am    Titel: Antworten mit Zitat

Da gilt wieder die alte Weisheit, Blumen zu Lebzeiten zu schenken, statt sie danach aufs Grab zu legen.
Und man sollte nicht alles als selbstverständlich ansehen.
_________________
Behandle Menschen so, wie Du selbst behandelt werden willst.
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Ira56
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Beiträge: 1235
Wohnort: Regensburg

BeitragVerfasst am: Do Okt 11, 2012 2:33 pm    Titel: Antworten mit Zitat

ich auch @zornröschen, ohne zu zögern. Meistens bleibt es ja nicht bei einem Schlag
_________________
Manchmal kommt es anders, als man denkt
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